Harald v.Rappard

Bemerkungen zum Liebesverständnis von Goethe (Heideröslein, Gefunden) im Vergleich zur Gegenwartsliteratur(Kristina Allert-Wybranitz)

Daß sich in Goethes Gedichten eine patriachalische Gesellschaftsordnung widerspiegelt, läßt sich am Rollenverständnis zwischen Mann und Frau belegen, das den Mann auf eine aktive und die Frau auf eine passive Rolle festlegt. Verfehlt wäre es aber, wenn das Patriachalische auf das bloße Moment der sexuellen Unterdrückung reduziert wird. Die Interpretation greift zu kurz, wenn Goethes Heideröslein als Verherrlichung männlicher Gewalt verstanden wird.

Nie hat es in der europäischen Geschichte eine Moral gegeben, in der die Vergewaltigung der Frau durch den Mann hingenommen worden wäre. Im Gegenteil. Sowohl die christliche Moral des Mittelalters als auch die Sittlichkeit des aufgeklärten Menschen des 18. Jahrhunderts halten die Vergewaltigung für einen verwerflichen Akt. Was indes in der Praxis seit eh und je geschah und immer noch geschieht, ist die alltägliche Vergewaltigung der Frau durch den Mann. Weder Christentum, noch Aufklärung haben diesen Tatbestand verhindern können (der Bundestag hat sich erst jetzt aufgerafft, die täglich stattfindende Vergewaltigung durch den Ehemann als Straftatbestand zu erklären und das gegen erheblichen Widerstand in der Gesellschaft!!).

Goethes Heideröslein spiegelt nur den jahrtausend alten Geschlechterkampf wieder, in dem der Mann den aktiv-erobernden Part übernimmt und die Frau den passiv-erleidenden. Der Reiz dieses Kampfes besteht in dem Grad des Widerstandes, die die Frau dem Mann entgegensetzt . Gibt sich die Frau dem Mann widerstandslos hin, so macht sie sich zum billigen Flittchen, an dem er schnell das Interesse verliert. Vermag der Mann dagegen den Widerstand der Frau nicht zu brechen, so zerbricht er an ihr. Sie macht ihn zum Versager, zur Flasche.

Der Geschlechterkampf ist also immer ein Kampf auf Leben und Tod, für den Mann ebenso wie für die Frau. Und die Liebe (sprich Verliebtheit ) dauert, solange dieser Kampf tobt und keiner zum Sieger wird. Vae victis (=Wehe den Besiegten) !

Im gebrochenen Heideröslein halluziniert Goethe seinen sehnlichen Wunsch, in diesem Geschlechterkampf der Sieger zu bleiben. Was auch bitter nötig ist. Im wirklichen Leben hat er diesen Kampf immer verloren.

Liebe als Geschlechterkampf findet jenseits aller Moral und Emanzipation statt und geht durch alle historischen Epochen hindurch und ist das Paradigma für jeden Liebesroman und jeden Liebesfilm - ich denke, das wirksamste Paradigma der Literatur überhaupt.

In dem Gedicht Gefunden treffen wir auf ein ganz anders geartetes Paradigma von Liebe. Der alte Goethe findet seine Liebe nicht mehr im Kampf und nicht als Jäger (nichts zu suchen, das war mein Sinn), sondern in der Begegnung mit dem Schönen, dem Natürlichen und Unverbildeten (Blume im Wald). Ob die Liebe Goethes hier einer Blume, einem Knaben oder einer jungen Frau gilt, ist nicht entscheidend. Die Auffüllung des Symbolgehaltes der Blume bleibt dem Rezipienten überlassen. Der automatisch sich einstellende Eroberungswunsch des Mannes, wenn er eine schöne Frau erblickt, wird hier durch eine moralische Haltung überwunden. Die Blume appelliert an das Gewissen des Iyrischen Ichs. Anders als die bedornte Rose ist diese Blume waffenlos und provoziert und reizt auch nicht zu iher Eroberung. Sie reizt zur dauernden Inbesitznahme. Goethe möchte das schöne Kind haben und immer in seiner Nähe wissen. Eine zerstörerische Eroberung würde ihn um dieses dauernde Glück bringen. Ihn ergreift eine fast väterliche Liebe zu dem schönen, fremden Kind, eine Liebe, die sich durch Fürsorge, Hege und Pflege kundtut.

Der Liebende begreift sich hier als moralisches Induividuum, indem er das Geliebte nicht zum Lustobjekt macht, sondern es als Selbstzweck begreift. Schön ist das Geliebte nur, wenn es sich ungeschmälert in seiner Ganzheit entfalten kann und nicht zum Gebrauchsgegenstand für den Liebenden degradiert wird.

Die Blume blüht immer aus sich selbst heraus und nicht zum Nutzen eines anderen, aber sie blüht nicht für sich selbst, sie will auch immer betrachtet werden - und ist es dann richtig, wenn sie nur für den Gärtner blüht? Diese Frage stellt sich Kristiane Allert-Wybranitz . Gegen Goethe erkennt sie, daß ihr Wunsch nach Inbesitznahme des Geliebten, um der Liebe Dauer zu verleihen, scheitern muß. In ihrem Besitz wird sich der Geliebte nicht mehr entfalten können und genau das verlieren, was sie an ihm liebt. Sie weiß um ihre zerstörerische Potenz und versagt sich ihrem Wunsch, ihn im Geschlechterkampf zu besiegen (ich will dich nicht brechen, nicht in eine Vase stellen). Deutlich hat sie den aktiven Part übernommen, den bisher traditionell der Mann gespielt hat, aber sie weigert sich, das männliche Rollenverhalten zu übernehmen. Sie weigert sich darüber hinaus, den Geliebten zu ihrem Eigentum zu machen.

Der Text von K.Allert-Wybranitz setzt nicht nur das Gedicht von Goethe voraus, sondern auch den Geist der Aufklärung, aus dem heraus erst das Goethische Gedicht entstehen konnte (Kant: der Mensch muß als Selbstzweck und nicht als bloßes Mittel betrachtet werden). Er geht aber über die bürgerliche Aufklärung hinaus, die wie Goethe dem bürgerlichen Eigentumsbegriff verpflichtet blieb und setzt eine Kritik am bürgerlichen Eigentumsbegriff voraus, die erst von Marx entwickelt worden ist und, bezogen auf das Verhältnis von Mann und Frau, in der Frauenbewegung der 70er Jahre unseres Jahrhunderts. Die Umkehr des Rollenverhältnisses im Text ist ein deutlicher Hinweis, daß dieser erst nach 1968 entstanden sein kann. Der Text atmet und antizipiert ein postbürgerliches Verständnis, das in der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre erstmalig postuliert wurde .